Die deutschsprachige Exilliteratur kann als Flucht- und Migrationsbewegung beschrieben werden, die in mehreren Wellen stattfand. Bereits vor dem 30. Januar 1933, der Tag also, an dem Reichspräsident Paul von Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte, spitzten sich in der Weimarer Republik die politischen Ereignisse zu.
Flucht und Exil – Ein kurzer Abriss zur Vorgeschichte
Auch die Weimarer Republik und auch das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges existierende Kaiserreich genauso wie der Deutsche Bund waren nicht immer ein idealer Ort für Schriftsteller und Publizisten. Zensur und Exil gab es auch schon vorher. Erinnert sei an Heinrich Heines „Wintermärchen“ und sein Pariser Exil. Doch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entstand in Deutschland eine Demokratie auf äußerst wackligem Boden und mit einer ab den 30er Jahren derartig zunehmend tödlichen Gefahr für Publizisten, wie es vorher nie der Fall war. Verschiedene widerstrebende politische Bewegungen gefährdeten das Fortbestehen der Weimarer Republik. Vor allem im Innern hatte die Republik Feinde, gegen die der Journalist und Schriftsteller Kurt Tucholsky (1890 – 1935) ankämpfte. Er verstand sich selbst als Demokrat und Antimilitarist und prangerte in seinen Artikeln die reaktionären Zustände in der Weimarer Republik an, wie beispielsweise in seiner 1927 erschienenen dreiteiligen Serie „Deutsche Richter“ in der Wochenzeitschrift „Die Weltbühne“. Alles in allem war aber in der Weimarer Republik in puncto Presse-, Kunst- und Medienfreiheit noch viel mehr möglich als in den Jahren zuvor und insbesondere nach 1933. Denn neben der „Weltbühne“ gab es u. a. auch noch den „Ulk“, die „Vossische Zeitung“ in Berlin und zahlreiche andere kritische Blätter und Verlage. In der gesamten Weimarer Republik gab es um das Jahr 1932 4703 Tages- und Wochenzeitungen mit einer Gesamtauflage von 25 Millionen Exemplaren schreibt Eva Prase im 2. Band des Handbuches „Medienmanagement: Medienpraxis, Mediengeschichte, Medienordnung“, Wiesbaden 2016. Diese enorme Zahl von unabhängigen Periodika, die in Deutschland nicht einmal im Internetzeitalter wieder annähernd online erreicht wurde, konnten auch die Republikschutzgesetze von 1922 und 1930 sowie die Notverordnungen von 1931 und 1932, die zu zahlreichen Zeitungsverboten führten nicht erschüttern. Berlin war in den 20er Jahren eines, wenn nicht das wichtigste Zentrum der deutschsprachigen progressiven Presse- und Literaturlandschaft. Weitere Zentren waren München, wo die satirische Wochenzeitschrift „Simplicissimus“ herausgegeben wurde oder Prag, wohin sich der Verleger Wieland Herzfelde des Berliner Malik-Verlages 1933 flüchtete.
1943 erschien im Londoner Exil „Mut - Gedichte junger Österreicher“ im linken Verlag „Jugend Voran“, in dem neben Eva Aschner, Kitty Gans und Arthur Rosenthal auch der aus Wien stammende Erich Fried auf Deutsch, aber mit einem englischsprachigen Vorwort, publizierten. Erich Fried emigrierte 1938 nach dem „Anschluss“ Österreichs - gerade mal 17jährig - nach London. Er war es auch, der den aus Prag emigrierten Dichter und Übersetzer Rudolf Fuchs noch wenige Stunden vor dessen Tod am 17. Februar 1942 vor dem Restaurant des Londoner „Austria Centre“ ein letztes Mal traf.
Tschechoslowakei war bevorzugtes Exilland
Prag bzw. die Erste Tschechoslowakische Republik boten vielen Exilanten ein hervorragendes Bestätigungsfeld. Hier gab es das kritisch-fortschrittliche Prager Tagblatt sowie das Prager Abendblatt. Hier waren Autoren zu Hause wie Franz Werfel, Max Brod, Egon Erwin Kisch, Rudolf Fuchs, Willy Haas, Paul Adler, Johannes Urzidil oder auch der blinde Schriftsteller Oskar Baum, der sein Augenlicht bereits als Kind bei einem antisemitischen Zwischenfall verlor (Jürgen Serke, „Böhmische Dörfer – Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft, 1987, S. 60), um nur einige in dieser kurzen Übersicht zu nennen. Auch der ursprünglich aus dem schweizerischen Weggis stammende Berliner Verleger Wieland Herzfelde konnte von Prag aus seinen – mittlerweile offiziell nach London umgemeldeten Verlag – weiterführen und gab die „Neuen deutschen Blätter“, eine Monatsschrift für Literatur und Kritik, von September 1933 bis August 1935 heraus. Auf der Titelseite wurden die Erscheinungsorte (Prag – Zürich – Paris - London – Amsterdam) benannt, was bezeugt, wie gut – trotz der widrigen Umstände des Exils – das Netzwerk aus Autoren, Verlegern und Rezipienten noch funktionierte.
Im austrofaschistischen Österreich
Für die meisten deutschen Publizisten kam Österreich hingegen nicht als Exilland in Frage. Zwar gab sich Österreich nach außen hin anti-nationalsozialistisch, duldete aber – im Gegensatz zu Prag, London oder Paris – kein antifaschistisches Emigrantenblatt. Genau wie Deutschland und Italien hatte auch die Republik an der Donau in den 20er Jahren einen gewaltigen Rechtsruck erlebt. Paul Michael Lützeler vergleicht den politischen Aufstieg des Österreichers Engelbert Dollfuß durchaus legitim mit dem Adolf Hitlers (vgl. „Die deutsche Exilliteratur 1933 – 1945“, Stuttgart 1973, S. 56). Auch Dollfuß gelangte mit demokratischen Mitteln zunächst in das Kanzleramt und nutzte diesen Weg 1933 zu einem Staatsstreich, kam jedoch nach dem erfolglosen Juli-Putsch von 1934 bei einem von Nationalsozialisten verübten Attentat ums Leben. Österreich entwickelte sich auch nach dem Tod Dollfuß´ immer nationalistischer. Zwar mussten, wie die österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig und Hermann Broch anmerkten, die unpolitischen jüdischen Intellektuellen nicht wie in Deutschland mit der tödlichen Gefahr durch Verfolgung rechnen, doch gerieten sie nach dem deutsch-österreichischen Juli-Abkommen von 1936 in immer stärkere Isolation (Stefan Zweig: „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“, 1970, S. 272 f. und Hermann Broch in: Hamburger Akademische Rundschau, 1948, S. 267 f.). Wer dennoch nach 1933 von Deutschland nach Österreich emigrierte, kam ursprünglich selbst aus der Donau-Republik und hatte die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin oder München als Schriftsteller oder Journalist verbracht, sodass diese Autoren Verwandte oder Freunde in Wien oder einer anderen österreichischen Stadt hatten, die sie unterstützten. Doch auch Österreich blieb nur eine Station für sie auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Terror. Spätestens mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 mussten viele weiteremigrieren. Andere entschieden sich (sofern sie sich entscheiden konnten, denn oft genug entschied der pure Zufall) schon 1933 für die angrenzenden Demokratien Tschechoslowakei, Frankreich, die Schweiz und England oder die in Übersee gelegenen USA. Überzeugte Kommunisten, wie der 1929 der KPD beigetretende Autor Erich Weinert, wählten die UdSSR als Zufluchtsort, wenn sie die Möglichkeiten hatten.
Einige Emigrantenschicksale
Der Prager Journalist Egon Erwin Kisch hielt sich zur Zeit des Reichstagsbrandes am 29. Februar 1933 in Berlin auf, wurde verhaftet und kurze Zeit später in die Tschechoslowakei ausgewiesen. Über verschiedene Stationen, u. a. die USA, emigrierte er nach Mexiko. Ebenso wie die aus Mainz stammende Autorin Anna Seghers, die 1941 in Mexiko-City ankam. Der eingangs erwähnte Kurt Tucholsky hatte bereits 1926 seinen Wohnsitz in das schwedische Hindås verlegt, wo er 1935 – erst 45jährig – an einer Überdosis Schlaftabletten starb. Der Prager Filmkritiker Willy Haas emigrierte 1939 über Italien nach Indien. Der Arzt Alfred Döblin und Autor des Romans „Berlin Alexanderplatz“ floh 1933 in die Schweiz.
Resumé:
Von Tucholskys Emigration bis zur Irrfahrt der St. Louis
Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass es mehrere Emigrationswellen gab. Die erste setzte bei besonders Vorausschauenden schon in der Weimarer Republik – für die Allgemeinheit zunächst unmerklich – ein, wie z. B. im Fall Kurt Tucholskys. Nach der „Machtergreifung“ im Januar und dem Reichstagsbrand im Februar 1933 folgte eine weitere Auswanderungswelle. Die nächste setzte nach der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 ein, bei der öffentlich die Namen aller Autoren verlesen wurden, die dem diktatorischen Regime als „undeutsch“ („Aktion wider den undeutschen Geist“) erschien. Eine weitere Welle folgte nach der sog. „Reichskristallnacht“ vom November 1938. Nicht zuletzt als Reaktion darauf verließ am 13. Mai 1939 die „St. Louis“ mit 937 deutschen Juden an Board den Hamburger Hafen. Das Schiff sollte die Flüchtlinge in das kubanische Havanna bringen, wo jedoch nur 29 Passagiere von Board gehen durften (vgl. auch: Thomas/Morgan-Witts: „Das Schiff der Verdammten. Die Irrfahrt der St. Louis“, 1976). Schließlich setzte mit der Besetzung der Tschechoslowakei am 15. und 16. März 1939 eine weitere Fluchtwelle sowohl mit der Weiter-Emigration der bis dahin in der Masaryk-Republik gestrandeten Schriftsteller als auch der dort heimischen Autoren ein, die nun versuchten, entweder nach England oder in die USA zu entkommen. Ein gleiches Schicksal ereilte die exilierten Autoren auch im Juni 1940 mit der Besetzung Paris´ sowie mit dem weiteren Kriegsverlauf in den weiter östlichen Gebieten gelegenen Städten wie Czernowitz, Bukarest und Budapest.
Prag, 22.04.2019
Konstantin Kountouroyanis
Vor 80 Jahren | Serie über Flucht und Exil deutschsprachiger Literaten
Teil 2 - Erste Station: Tschechoslowakei [Folgt in Kürze]