In diesem Monat wäre Rainer Maria Rilke 140 Jahre alt geworden. Grund genug für das Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren am Vorabend seines Geburtstages einen Rilke-Abend gemeinsam mit Prof. Dr. Milan Tvrdík und Dr. Viera Glosíková von der Karls-Universität Prag sowie dem Leiter der Arbeitsstelle für literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg am Deutschen Literaturarchiv in Marbach Dr. Thomas Schmidt zu gestalten. Die Veranstaltung fand in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Prag statt und wurde von der Übersetzerin Jitka Sedláčková simultan ins Tschechische gedolmetscht.
Rilkes Beziehung zur tschechischen Literatur
Rainer Maria Rilke, der junge Mann mit den sensiblen Gesichtszügen und den großen Augen, wurde am 4. Dezember 1875 in Prag als Sohn des aus Tülmitz stammenden Beamten Josef Rilke und der Prager Fabrikantentochter Frau Sophia geboren. So könnte eine Biografie zu dem vielleicht bekanntesten Prager Dichter neben Werfel und Kafka beginnen. Doch so Pragerisch wie Rilke heute gesehen wird, fühlte sich der Autor zu Lebzeiten gar nicht. Bereits während seines Studiums wechselte Rilke 1897 an die Universität München, wo er auch seine zweite große Liebe traf. Fortan führte Rilke ein Leben auf Wanderschaft und reiste durch Europa. Ein Mensch, der wie Rilke über 100 verschiedene Wohnorte in seinem Lebenslauf verzeichnen kann, ist schwer mit dem gängigen stereotypen Begriff von "Heimat" zu fassen. Doch Rilkes Kindheit und Jugend in Prag und Böhmen prägten auch noch seine Spätwerke. Prof. Milan Tvrdík und Dr. Viera Glosíková gestalteten die ersten 60 Minuten des Themenabends "Rilke und (seine) Tschechen" mit Texten aus dem Schaffen Rilkes, seiner Beziehung zur tschechischen Literatur (Rilke sprach einwandfrei Tschechisch. Das belegen historische Quellen.) und die tschechische Rezeption seiner Werke.
Rilke in den Archiven
Der zweite Teil wurde von Dr. Thomas Schmidt unter dem Titel: "Rilkes Heimat und die Archive" fortgeführt und lieferte im Grunde einen Werkstattbericht der bisherigen Forschungs- und Archivarbeit Dr. Schmidts. Bedingt durch Rilkes zahlreiche Umzüge befindet sich auch sein Nachlass auf viele Archive verstreut. Schmidts Ziel ist es, durch umfangreiche Forschungsarbeiten weitere Nachlässe, wie u. a. demnächst bei seiner anstehenden Russlandreise, aufzuspüren und in der Schiller- und Archivstadt Marbach innerhalb einer Ausstellung zugänglich zu machen.
Dr. Schmidt machte anhand zahlreicher Archivalien deutlich, dass Literaturwissenschaft nicht nur hermeneutisch betrieben werden kann, sondern gerade durch die äußerst zeitaufwendige und mühsame Archivarbeit mit Fakten unterfüttert werden muss, um zu neuen und brauchbaren Ergebnissen zu kommen. Archivalien bieten einen Zugang zu historischen Fakten, die so nicht im Transkript oder einem Bildscan zu finden sind. Dies können Wasserzeichen, Gravuren und in Manuskripten vorgenommene Kürzungen und Streichungen sein, die der Autor zu Lebzeiten durchgeführt hat und so einen Einblick in den Entstehungssprozess seiner Texte gewährt. Auch bei Rainer Maria Rilke lassen sich in den Texten zahlreiche Streichungen finden und ermöglichen es so, dem Autor sozusagen beim Schreiben erneut über die Schulter zu schauen. Auch der Briefwechsel mit Zeitgenossen ist dabei von außerordentlichem Interesse und Rilke war ein exzessiver Briefeschreiber.
Ein großer Teil der Rilke-Archivalien lässt sich daher auch im Lou Andreas-Salomé Archiv in Göttingen finden. Verwunderlich ist dies keineswegs, denn neben seiner ersten Liebe Valerie von David-Rhonfeld dürfte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur noch eine zweite Frau in seinem Leben, nämlich Lou Andreas-Salomé, sein Herz erreicht haben. Doch das Glück sollte nicht von Dauer sein. Nachdem Rilke Andreas-Salomé am 12. Mai 1897 das erste Mal getroffen und sich in sie verliebt hatte, trennte sie sich bereits drei Jahre später - im Jahr 1900 - von ihm. Nichtsdestotrotz blieb Andreas-Salomé die wichtigste Freundin und Beraterin für ihn bis zu seinem Tode am 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, in der französischen Schweiz. Erst spät wurde bei ihm Leukämie diagnostiziert. Die Gedichte "Dir zur Feier" (entstanden 1897/98) sind eine Liebeserklärung an Andreas-Salomé. Die fast 14 Jahre ältere in St. Petersburg geborene Andreas-Salomé starb 7 Tage vor ihrem 76. Geburtstag am 5. Februar 1937 in Göttingen.
Aber neben Göttingen wies Thomas Schmidt auch zahlreiche weitere Archive nach, die Rilke-Archivalien beherbergen, wie u. a. das Rilke-Familienarchiv in Gernsbach, die Anna Amalia Bibliothek in Weimar, das Schweizerische Literaturarchiv in Bern und zahlreiche weitere Archive. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach benötigt keiner besonderen Erwähnung, da es sich sozusagen als Erstanlaufstelle für Literaturwissenschaftler und Historiker anbietet.
Aus Marbach hat Dr. Schmidt auch einige Archivalien im Original mitgebracht, die das Publikum nach dem Vortrag in einer kleinen Ausstellung betrachten konnte.
Wer bin ich, der ich "in die Welt hineingeworfen" wurde?
Am Ende des Abends fragte sich das deutsch- wie auch tschechischsprachige Publikum, wer denn nun Rilke war. Ein Deutscher, ein Prager, ein Tscheche oder ein heimatloser Kosmopolit. Auch darauf fand Thomas Schmidt eine Antwort und zwar in den Texten Rilkes selbst. Rilke schrieb: „Nur werden wir nicht in unsere Heimat geboren, und mir scheint sogar, als ob alles Große immer aus diesem Verlangen gekommen wäre, sie irgendwo zu finden – offen und festlich und wie wartend unsere Wiederkehr.“
Konstantin Kountouroyanis, 06.12.2015
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