Der Autor

Peter Pragal wurde 1939 in Breslau (heute Wrocław, Polen) geboren. Nach Flucht und Vertreibung kam er mit seiner Familie nach Deutschland, wo er das Abitur machte und nach dem Studium der Publizistik, Neueren Geschichte und Politik auch die Journalistenschule in München besuchte.

Als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung war er für die Berichterstattung aus der DDR, Bulgarien, Rumänien, der Tschechoslowakei und Ungarn zuständig. Pragal war außerdem leitender Redakteur bei der Berliner Zeitung. Seit 2004 arbeitet er als freier Journalist und Publizist in Berlin.

Basierend auf persönlichen und professionellen Erfahrungen hat er mehrere Bücher herausgegeben, unter anderem "Der geduldete Klassenfeind - Als Westkorrespondent in der DDR" und "Wir sehen uns wieder mein Schlesierland - Auf der Suche nach Heimat".

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| Peter Pragal | Rubrik: Kultur | 17.4.2015

Hlahol - Prags ältester Gesangverein

Pragals Prager Tagebuch (10)

Seine herausragende Bedeutung verdankt das Haus nicht nur seiner Architektur, sondern vor allem der Tatsache, dass hier Prags ältester Gesangsverein mit dem Namen „Hlahol“ - abgeleitet von hlaholit (erschallen) - sein Domizil hat. Seit 110 Jahren gehen die Mitglieder der 1861 gegründeten Vereinigung hier ihrer Sangesfreude nach. Nur zwei Mal, gegen Ende der Nazi-Okkupationszeit, wurden die Räume für kurze Zeit zweckentfremdet. Einmal zog eine Abteilung des Reichsarbeitsdienstes ein. Kurz vor Kriegsende wurde der Konzertsaal auf Weisung der Wehrmacht beschlagnahmt, um Mehl einzulagern.

Eines Tages fiel mir die Ankündigung eines öffentlichen Konzertes auf. „Rock & Pop“ lautete der Titel. Der weckte mein Interesse. Ich hatte es nicht weit, brauchte nur von meiner Haustür zum Eingang auf der anderen Seite des Gebäudes zu gehen. Ich zahlte im Foyer den geringen Eintrittspreis von umgerechnet drei Euro und betrat den Hauptsaal. Er war mit Zuhörern überfüllt. Alle Generationen waren vertreten, Alte wie Junge, manche salopp gekleidet, andere im Kostüm und im Anzug mit Hemd und Krawatte. Ich entdeckte einen der letzten freien Stühle und schaute mich um.

In diesem Raum unter der verglasten Decke wird Geschichte lebendig. An den Wänden sind die Büsten der wichtigsten Chorleiter aufgestellt, unter ihnen Bedrich Smetana, einer der bedeutendsten Komponisten des Landes und Schöpfer des Zyklus „Mein Vaterland.“ Die alten Kronleuchter sind eine Pracht. Zur Einrichtung gehört eine kleine Orgel. Am meisten beeindruckt die große Lünette mit einem 1921 geschaffenen Bild des Jugendstil-Künstlers Alfons Mucha mit dem Titel „Das tschechische Lied.“ Das Schönste an den Innenräumen sei die Atmosphäre, hat einmal ein Besucher festgestellt, sie erwecke den Eindruck, als sei hier die Zeit stehen geblieben.

Das mag für den äußeren Rahmen der zum Kulturdenkmal erklärten Einrichtung zutreffen, nicht jedoch für das Konzertprogramm. Als die etwa 60 Sängerinnen und Sänger den Saal betreten, sich auf dem Podium formieren und mit Leidenschaft zu singen beginnen, wird schnell deutlich, dass der hier gepflegte Chorgesang mit der Zeit geht. In rascher Folge, begleitet und unterbrochen von den Darbietungen einer kleinen Band, erklingen Kompositionen von Cohn, Queen, Jenkins, Morricone und anderen. Chorleiter Roman Novak, seit 2001 künstlerischer Leiter, hat das klassische, zumeist tschechisch dominierte Repertoire um viele A-Capella-Kompositionen zeitgenössischer Tonschöpfer aus dem In- und Ausland erweitert. Das Publikum geht begeistert mit und klatscht frenetisch.

Es lohnt, sich mit der Geschichte von Hlahol zu befassen. Die Vereinsfahne unter der Losung „Mit Gesang zum Herzen, mit dem Herzen zur Heimat“ hat 1862 der Künstler Josef Manes gemalt. Es war die Zeit, als sich Tschechen nach langen Jahren habsburgischer Vorherrschaft ihres nationalen Erbes bewusst wurden. Überall im Lande wurden Chöre und Gesangvereine gegründet. Die Menschen begeisterten sich für ihre heimatlichen Lieder und Tänze, auch für ihre Sagen, Märchen und Mythen. Und mit der Erinnerung an die legendäre Vergangenheit der Premysliden und Hussiten wuchs auch das nationale Selbstbewusstsein.

Anfangs bestand der Chor ausschließlich aus Männern. Erst im Mai 1873, als er Dvoraks „Hymnus“ aufführte, erhoben auch Sängerinnen in dem nunmehr gemischten Chor ihre Stimme. Für seine künstlerischen Leistungen erhielt der Verein 1889 die Goldmedaille „Literis et artibus“ aus den Händen des Kaisers. In der Zeit der ersten Republik absolvierte der Chor zahlreiche Auslandskonzerte. Sie führten auch nach Deutschland.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Tätigkeit des gemischten Chores auf ein Minimum zurückgefahren“, heisst es in der Vereinschronik. Unter der Herrschaft der Kommunisten habe sich der Chor zwar künstlerisch entwickelt. „Aber es fehlte der Kontakt mit dem Ausland, und das Gebäude des Hhahol verfiel.“ Auch die Subventionen, die früher regelmäßig geflossen waren, gab es nun nicht mehr. Bei Aufführungen konzentrierte sich der Chor auf kirchliche Werke. Mit einem Weihnachtskonzert am 5. Dezember 1989, das der Chor im Smetana-Saal des pompösen Gemeindehauses gab, läutete er gleichsam die neue, demokratische Ära ein.

Beim Konzert Rock & Pop trugen die Sängerinnen Blumengebinde um ihre Köpfe. Die Konzertkleidung war individuell. Rund 70 Jahre zuvor ging es bei der Etikette noch strenger zu. Ausgerechnet während der NS-Herrschaft gab es 1942 eine Änderung, die sich angesichts der damaligen politischen Verhältnisse fast kurios ausnimmt. Nach einem Beschluss des Vereins-Ausschusses sollten die männlichen Chorsänger künftig nicht mehr den aristokratischen Frack als Konzertkleidung tragen, sondern den Smoking.

geschrieben am 17. April 2015

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