Der Autor

Jutta Schubert (*1959) studierte Theaterwissenschaften und Literaturgeschichte.

Seit 1987 arbeitet sie als Theaterregisseurin, Dramaturgin und freie Autorin von Theaterstücken, Romanen und Gedichten.

Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller im Landesverband Hessen und im PEN-Zentrum Deutschland.

2013 erschien ihr Roman "Zu blau der Himmel im Februar", welcher sich mit Alexander Schmorell, Mitglied der Widerstandsgruppe "Weiße Rose", und seiner glücklosen Flucht vor den Nazis auseinandersetzt.

2014 erschien ihr Buch "Zwischen Sein und Spielen" über den deutschen Theatermacher und Autoren George Tabori.

Im Internet: www.schubert-jutta.dewww.schubert-jutta.de
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Weitere Einträge

Postscriptum
Blick auf die Stadt oder Der Geist von Prag
Natürlich, eine alte Handschrift (2)
„Natürlich, eine alte Handschrift“ (Umberto Eco)
Der Geist von Mozarts Katze
Havel na Hrad
Casanova tanzt (2)
„Prag hat keine Realität.“ (Franz Werfel)
„…mein wirkliches Leben anzufangen, in welchem mein Gesicht endlich mit dem Fortschreiten meiner Arbeiten in natürlicher Weise wird altern können.“ (Franz Kafka, Tagebucheintrag vom 3.1.1912)
„Kein Traumcafé, sondern ein Literaturhaus“ (Lenka Reinerová)
Blau ist die Vergangenheit, Gelb die Gegenwart, Orange die strahlende Zukunft (A. Mucha)
Tag des Kampfes für Freiheit und Demokratie (1989)
„Das einzige, was ich wirklich schreiben kann, sind Liebesbriefe, und letzten Endes sind alle meine Artikel nichts anderes.“ Milena Jesenská
Casanova tanzt
Der Absinthtrinker
Flaneurin auf der Kleinseite
Ein Nichts, ein Traum, ein Schweben
Im Ballsaal
"Am Grunde der Moldau wandern die Steine, es liegen drei Kaiser begraben in Prag..."
"...der schöne Weg hinauf, die Stille dort..."
Auf der Suche nach dem geschlossenen Café
"...horchend ins Geschrei der Dohlen..."
Im Schatten der jüdischen Stadt
Kafka lebt nicht mehr hier
"Unsere Kunst ist ein von der Wahrheit Geblendetsein" (Franz Kafka)

Blog

| Jutta Schubert | Rubrik: Reise | 28.12.2014

Briefe aus Prag - 25

Kafkas Körper

 Donnerstag, 27. November 2014

Liebster,

Kafkas Körper erwies sich zunächst als sehr widerstandsfähig. Es ist überliefert, dass er ein unermüdlicher Spaziergänger war, der viele Stunden lang, ohne die kleinste Anstrengung zu verspüren, durch die Straßen der Stadt, ihre Parks und Gärten, ihre Hügel hinauf und das Moldauufer entlang gehen konnte, in Gesellschaft, doch sehr häufig wohl auch allein. Das schien ihn zu konzentrieren, ihm den Kopf frei zu machen.

Er war zudem ein leidenschaftlicher Schwimmer und Ruderer. Er schlief wenig, da er nachts schrieb oder wach lag, um an das Schreiben zu denken. Er arbeitete viel, sowohl in der Versicherungsanstalt als auch nachts an seinem eigenen privaten Schreibtisch zu Hause. Daher bekam er zu wenig Schlaf, zumal er früh aufstehen musste, um rechtzeitig an seinem Arbeitsplatz im Büro zu erscheinen. Er schlief daher gern, wenn möglich, nachmittags nach dem Büro noch einige Stunden, um für den Abend und das eventuelle Schreiben, wieder frisch zu sein. Zu wenig Schlaf laugt einen Körper aus.

Ohnehin schien er seinem Körper trotz aller Ertüchtigung nicht zu trauen. Möglicherweise empfand er ihn auch als fremd. Die Phantasie zu haben, morgens als Käfer im eigenen Bett zu erwachen – ein Bild, das heute weltweit mit seiner Literatur verbunden wird, beinahe, als wäre das ein Zustand, der sich traumatisch im kollektiven Gedächtnis der Menschen verankert hat, ähnlich den weichen Uhren in Salvador Dalìs Malerei, nur eben sehr viel drastischer – also diese Phantasie zu haben, lässt auf Erfahrungen mit dem eigenen Körper schließen, bei denen ein Gefühl grundsätzlicher Fremdheit oder Andersartigkeit kaum von der Hand zu weisen ist.

Als er schließlich von seiner Todeskrankheit, der Tuberkulose, heimgesucht wurde, wunderte er sich darüber nicht. Es war, als wenn er auf eine Krankheit gewartet hätte, die ihm unumgänglich schien, bei all der Anstrengung, die er unternommen hatte, sein Schreiben und sein Leben zu meistern.

Das Schreiben ist ein körperlicher Vorgang. Wer es sich als rein geistige Tätigkeit vorstellt, unterliegt einem schweren Irrtum. Der Körper schreibt ebenso mit wie das, was wir Seele oder Geist nennen. Der Körper reagiert seismographisch und er ist immer der Stärkere. Man kommt nicht gegen ihn an. Mit gewaltigen geistigen Anstrengungen lässt er sich zeitweise überlisten, hinhalten, ausblenden oder vertrösten, doch unweigerlich fordert er irgendwann sein Recht und dann ist man ihm ausgeliefert. Darin ist er von Natur aus dem Tod ähnlich.

Kafka muss das sehr genau gewusst haben. Vermutlich wusste er auch, dass er nicht sehr viel Lebenszeit hatte, um die Dinge, die er schreiben wollte, tatsächlich zu Papier zu bringen und zu vollenden. Soviel Verhinderung an allen Ecken und Enden. Soviel verlorene, fürs Schreiben vertane Zeit. Das wird ihn zeitweilig hilflos gemacht haben, sprachlos oder wütend. Doch er hat niemals aufgegeben, er war ein Kämpfer. Bis sein Körper ihn endgültig in die Knie zwang.

Er war geräuschempfindlich, hasste Lärm. Und davon gab es auch zu seiner Zeit schon mehr als genug. Man mag sich das Hufgetrappel und Rädergerappel der Pferdefuhrwerke auf dem Kopfsteinpflaster, das Geratter der elektrischen Straßenbahnen, von denen zudem das ganze Haus erzittert, wenn sie vorbeifahren, das Geschrei und Gerede der Menschen und ihre unendlichen Verrichtungen, die kaum jemals geräuschlos sind, am liebsten gar nicht vorstellen. Dazu kommt – davon gab Kafkas jüngster Biograf Reiner Stach vor einigen Wochen während einer Veranstaltung im Goethe-Institut zum Erscheinen seiner vollendeten Kafka-Biografie ein sehr genaues und anschauliches Bild – dass die Stadt, in der Kafka lebte, zu seiner Zeit eine einzige Großbaustelle war. Die alte Judenstadt wurde abgerissen, komplett assaniert, wie man hier sagt. An ihre Stelle traten die vielgeschossigen Wohnhäuser der Jahrhundertwende, die noch heute größtenteils stehen. Es wurden neue Brücken über die Moldau gebaut. Dauernd wurden neue Straßenzüge durch die Stadt gepflügt. Kafka konnte dabei keine Ruhe finden, nie und nirgends, abgesehen von den späten Abend- oder Nachtstunden in dem gemieteten kleinen Häuschen in der Alchimistengasse auf dem Hradschin. Das war keine romantische Stadt mit einsamen Gassen und schauerlichen Schatten werfenden Gaslaternen.

Dazu die Enge. Kafka muss sich ungeheuer beengt gefühlt haben. Der Radius, in dem sein Leben verlief, war nicht groß. Er lässt sich noch heute von einem Ende zum anderen in weniger als einer halben Stunde abschreiten. Die Deutsch sprechenden Juden waren in ihrer Lebensweise isoliert. Sie blieben unter sich. Insofern musste Kafka fast alle Menschen, die ihm täglich auf seinen Wegen durch die Stadt begegneten, gekannt haben. Rainer Stach beschrieb auch das sehr anschaulich: Kafka musste wohl alle paar Meter seinen Hut lüften, um jemanden zu grüßen.

Wie sehr wir heute auch oft unter der Anonymität der Großstadt leiden, Kafka machte die gegenteilige Erfahrung. Er traf in seinem Prager Umfeld vermutlich fast niemals auf einen Fremden. Diese Enge, das kann man sich vorstellen, wirkt sich in der Regel auf den geistigen Horizont aus, der ebenfalls begrenzt bleibt. Doch das war bei Kafka nicht der Fall. Bei seinem Umfeld wohl aber schon.

Kafkas Horizont war weit, tief, und scheint, von heute aus betrachtet, nahezu unbegrenzt in seinen Möglichkeiten. Es ist wohl davon auszugehen, dass er sich nur selten seinem Horizont und seinen geistigen Bedürfnissen entsprechend unterhalten konnte. Die Gesprächspartner fehlten schlicht. Man nehme seine eigene Familie zum Beispiel. Der Vater ein Knöpfezähler. Die Schwestern gradlinig in ihren konventionellen Lebensbahnen.

Die Kollegen im Büro – Gott bewahre. Vielleicht manchmal der eine oder andere Vorgesetzte, wie Kafka ab und an lobend in seinen Tagebüchern und Briefen erwähnt. Und sicher: die Caféhaus- und Literatenfreunde, von denen jedoch auch ein jeder seine ganz persönlichen Meinungen und Vorlieben vertrat und in deren Gesellschaft Kafka häufig schweigsam gewesen sein soll. Selbst Max Brod, sein engster Freund, konnte ihm hier wohl auch nicht alles bieten. Ohnehin kann dies ja kein einzelner Mensch für einen anderen leisten.

Man stelle sich also Kafkas Körper in allen diesen Zusammenhängen vor. Man begreift, dass er sich nach den Metropolen gesehnt hat, nach Paris, nach Berlin…

Die Einsamkeit fürchtete er keinesfalls, er war ja sowieso allein. Allein sein bedeutet vor allem Unverstandensein. Aus dem Gefühl des Unverstandenseins in der Welt erwächst nicht zuletzt Literatur. Und dieses Gefühl beginnt früh, meist schon in der frühen Kindheit. Und ist später durch nichts mehr wettzumachen.

Neben der geistigen Ernährung des Körpers bleibt dann noch die ungeistige. Kafka ernährte sich vegetarisch. Diese Tatsache trug ihm auch nicht gerade Bewunderung ein. Seine Sexualität bleibt ein Rätsel. Sicher, in gewisser Weise bleibt sie das bei jedem Menschen. Sein eigentümliches Verhältnis zu Frauen wurde, wie alles, was Kafka betrifft, bereits hinlänglich „untersucht“. Untersucht ist ein gutes, ein körperliches Wort. Ärzte untersuchen ihre Patienten. Fühlt jemand sich körperlich unwohl, steht ihm eine Untersuchung bevor.

Im Falle Kafkas meint man herausgefunden zu haben, dass sein Verhältnis zu Frauen vielfältig gestört oder zumindest verstörend für beide Seiten war. Vor engen Bindungen schreckte er zurück, auch wenn er sich wohl danach sehnte. Vielleicht, weil er sie idealisierte, oder einfach, weil er sie als gesellschaftlich schicklich empfand. Er kannte ja in seinem Umfeld so gut wie nichts anderes als Ehen, Familien. Daraus bestand die Welt und das schien ihr Sinn zu sein. Eine Ehe ging er niemals ein, löste Verlobungen. Häufig auch mit der Hintertür, sich für das Schreiben bewahren zu wollen, zu müssen. Sexuelle Erfahrungen? Er soll Bordelle besucht haben. Den Frauen, mit denen er engere Bindungen versuchte, pflegte er meistens einfach zu schreiben. Die Liebe. Ist sie eine geistige oder ein körperliche Sache? Beides? Trennbar? Untrennbar? Rätselhaft.

Zum Körper gehört naturgemäß auch der Tod. Kafkas Körper machte ihm recht früh einen Strich durch sämtliche Rechnungen, die er vielleicht noch zu begleichen hoffte. Das war 1924, in seinem 41. Lebensjahr. Wäre er nicht gestorben, so hätten seinen Körper möglicherweise noch ganz andere Katastrophen heimgesucht. Solche, von denen er nichts wissen konnte und die er doch, wenn man seine Texte liest, teilweise vorauszuahnen schien. Er hätte, so darf man spekulieren, Jahre später von den Nationalsozialisten in ein Konzentrationslager verschleppt und dort ermordet werden oder sowieso sterben können. Seine drei Schwestern erlitten dieses Schicksal und ebenso seine tschechische Übersetzerin und zeitweilige Freundin Milena Jesenska. Vielleicht ist ihm das erspart geblieben. Doch das gehört bereits weit ins Reich der Spekulation.Ob Kafka seinen Körper liebte? Darüber lässt sich nichts sagen, nur, dass überliefert ist, dass er mit seinem Äußeren oft sehr unzufrieden war, nicht wusste, wie er sich kleiden sollte, um möglicherweise vorteilhafter auszusehen, als es ihm selbst schien. Vielleicht empfand er sich als schwach. Doch das war er nicht. Er bewies Mut und Stärke, sich dem Leben, das er führte, zu stellen. Er stand zu sich. Um noch einmal Rainer Stach zu zitieren, der auch das wunderbar auf den Punkt brachte: Kafka wurde aus der Schwäche heraus stark. Er hat getan, was er absolut tun wollte, unter den für ihn schwierigen Bedingungen. Das ist und bleibt bewunderungswürdig.

Die Kenntnis der inneren Topographie seiner Stadt Prag ermöglicht einen etwas leichteren, konkreteren Zugang zu Kafkas Werk. So offensichtlich hatte ich mir das nicht vorgestellt, doch so erlebe ich es hier. Die Stadt Prag war notgedrungen auch ein Teil seines Körpers. Heute ist der Körper dieser Stadt, rund um sein ehemaliges Lebensgebiet am Altstädter Ring, ein Teil Kafkas. Er fand für diese Stadt, die ihn nicht losließ, das Bild: „Dieses Mütterchen hat Krallen.“ Krallen sind von Natur aus etwas, das dazu benutzt wird, in einen fremden Körper geschlagen zu werden.

Ich bin sehr froh über diese Prag-Erfahrung.

In Liebe,
Deine

 

PS.: Die beiden Fotos stammen aus der sehr schönen, kleinen Ausstellung rechts im Gang neben der Eingangshalle des Century Old Town-Hotels (ehemalige Versicherungsanstalt). Diese liebevolle Ausstellung, ganz unscheinbar und scheinbar unaufwendig, ist die beste, die ich über Kafka in Prag gesehen habe.

 

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