2024-05-03 // Noch nie war ich zwei Monate allein. Das wird ein Experiment. Prag kenne ich, von Campingaufenthalten mit meinen Eltern, später meinem Sohn; von Hotelaufenthalten mit meinem Mann, Apartments mit meiner Freundin. Gut, ich war schon ein paarmal zwei/ drei Tage allein hier, zu Leseabenden im Literaturhaus. Da waren die Tage strukturiert, nicht ganz selbstbestimmt.
Nun habe ich acht Wochen lang alle Freiheiten. Ich kann arbeiten – und es gibt viel zu tun – aber ich kann mich auch treiben lassen. Ich kann mich von morgens bis abends betrinken, lesen, schlafen. Oder mich an den Rechner setzen und ins Zeug legen. Ein Buch fertigschreiben, ein anderes mit einem Personenverzeichnis und einem Nachwort versehen. Who´s care?
Gerade habe ich meinen Mann zum Zug gebracht. Er fährt zurück, und wir werden uns erst in drei Wochen wiedersehen („Es brach ihr schier das Herz entzwei“).
Über Prag ziehen Wolken auf, der Wetterbericht hat schon den ganzen Tag von Stunde zu Stunde Regen angekündigt. Aus meinem kleinen Lautsprecher dröhnen die Vier letzten Lieder von Richard Strauss, aber davon wird’s auch nicht besser.
2024-05-04
Ein Sonnabend in Prag. Einmal muss es sein, also spaziere ich zur Kleinseite, zum Prager Jesulein, mit dem ich einiges zu besprechen habe, und weiter hoch zur Burg. Gemeinsam mit etwa hunderttausend anderen Menschen. Unaufhaltsam strömen sie in allen Richtungen umeinander – ja wenn sie wenigstens strömen würden, aber nein, mitten auf dem Weg bleiben sie urplötzlich stehen, schauen auf ihre Handys, fotografieren sich und ihre Familien, oder gucken einfach nur so in die Luft. Sie bilden Knäuel. Alles staut sich, drängt, bleibt aber höflich. Was wollen die alle hier?
Das wird so den ganzen Sommer über weitergehen. Millionen werden sich durch die engen Gassen wälzen, unnötigen Schickschnack kaufen, Zmrzlina und Trdelniks in ungeheuren Mengen verzehren und Hektoliter Bier trinken. Und was haben sie dann gesehen von der Stadt? Doch nur ihresgleichen, vor sich, hinter sich und neben sich, nur Touristen. Aber auch hier gilt die alte Weisheit, nach der es nur dort schön sein kann, wo viele andere sind. Denn die alle können nicht irren.
2024-05-10
Eine ganze Woche schon bin ich hier. Habe ich mich „eingelebt“? Über einige Handgriffe und Gänge muss ich nicht mehr jedesmal nachdenken, gut, aber sonst? Ein Tagesablauf hat sich eingespielt: 6.30 Uhr aufstehen, denn da liegt der Laurenziberg in der Morgensonne (wenn sie denn scheint), ab etwa 8.30 Uhr am Rechner, arbeiten. 16 Uhr fällt der Hammer, dann geht’s raus, zu Fuß, immer. Eine kleine Kavárna habe ich mir für den täglichen Espresso um 18 Uhr ausgesucht. Aber nun hatte man zweimal hintereinander geschlossen. So wird das nix mit dem Vertraut-machen. Also eine andere Kavárna gesucht. Und siehe, da ist der Espresso nur halb so teuer und der Chef gleich beim ersten Mal freundlich. Der Wechsel ist beschlossene Sache.
Und, arbeite ich? Am Rechner treibt es mich von Person zu Person im Umkreis Natoneks. Immer neue Schriftsteller, Journalisten, Redakteure und ihre Frauen tauchen auf, Schauspieler und Lehrer. Das Netz ist endlos, führt oft in die Irre, auf Abwege. Aber ich habe Zeit und muss die Irrwege nicht scheuen. Das Clementinum kann noch warten.
Wie hat sich Natonek verständigt. Er selbst erzählte, dass er ein einfaches Tschechisch von seinem böhmischen Kindermädchen gelernt habe. Aber das reicht nicht für kompliziertere Gespräche über Politik und die Situation daheim, in Deutschland 1935. Ich habe zwei Jahre lang an der Volkshochschule Tschechisch gelernt, mühsam, denn immer kam das Russisch der Schulzeit wieder dazwischen, und diese Unmassen an Wörtern, die mit po- beginnen, habe ich nie in meinen Kopf bekommen. Als ich vor Jahren mit einem alten Antiquar sprach und ganz sorgsam tschechische Sätze formulierte, war seine Reaktion: „Sie sprechen Tschechisch wie meine 94-jährige Mutter. Die hat es auch nie gelernt.“
Am Nachmittag streife ich durch Vinohrady. Hat Natonek seine Stadt wiedererkannt? In den 1920-Jahren muss Prag doch eine einzige große Baustelle gewesen sein.
2024-05-14
Ein Gedanke taucht immer wieder auf: woher nehmen die Nachgeborenen die Arroganz, es denen, die in Deutschland geblieben sind, so zu verübeln, nicht gegangen zu sein? Warum haben die nicht das Land verlassen, lautet immer wieder die Frage, wenn es um Erich Ebermayer oder Erich Kästner geht. Exil ist doch eine ganz einfache Sache und hopp! Sprache, Klima, Essen – alles Gewöhnung, mehr ist nicht dran an der Heimat. Diesen Unsinn können nur Nesthocker erzählen.