Der Autor

Christina Kettering, geboren 1980 in Werne, studierte von 2000 bis 2005 Prosa und Dramatik/Neue Medien am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig.

Im Anschluss an ihr Studium war sie als Dramaturgin an verschiedenen Theatern tätig. Sie organisierte Lesungen und Veranstaltungen in Köln und entwickelte Performances im öffentlichen Raum in Berlin-Kreuzberg.

Seit 2008 lebt sie in Berlin und arbeitet als freie Dramaturgin sowie als Projekt- und Kursleiterin bei ACT e. V. Heute arbeitet sie im Bereich der Kulturellen Bildung und schreibt Theaterstücke für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.

Ihr Stück „Antarktis“ wurde 2015 im Hamburger Sprechwerk uraufgeführt und 2019 veröffentlichte sie das Theaterstück „Keine Lieder“. Zurzeit arbeitet sie an ihrem neuen Roman „Fremde Tage“ über die Zeit zwischen den Fall der Berliner Mauer und die Vereinigung Deutschlands.

Bildnachweis:
© Maria Zillich

Blog

| Christina Kettering | 26.2.2020

Der Golem von Prag

7.11.

 

Der Golem von Prag

 

Noch in Berlin hatte ich mir vorgenommen, gleich am Anfang die Altneu-Synagoge im alten jüdischen Viertel zu besuchen. Vor vielen Jahren, nach meinem Studium, hatte ich sehr viel zur (Literatur-) Geschichte des Antisemitismus gelesen und war im Zuge dessen auf den Mythos des Prager Golem gestoßen. Es gibt verschiedene Legenden, aber der populärsten nach wurde er von Rabbi Jehuda Löw geschaffen, den es wirklich gab und der auf dem Jüdischen Friedhof in Prag begraben liegt, um die Prager Juden vor weiteren Übergriffen zu schützen. Im 16. Jahrhundert war eine der vorherrschenden Verschwörungstheorien gegen die Juden der Vorwurf des Ritualmords. Ihnen wurde vorgeworfen, das Blut christlicher Kinder für ihre religiösen Riten zu gebrauchen und deswegen christliche Kinder zu ermorden. Dieser Vorwurf, so wie der ebenso verbreitete der Brunnenvergiftung, diente häufig als Vorwand für Pogrome. Der Golem sollte die Bewohner des Ghettos davor schützen, indem er durch die Gassen ging und alle kontrollierte, die einen besonders schweren Sack trugen. So sollte vermieden werden, dass jemand ein totes Kind in die Straßen des Ghettos legte, um es den Juden unterzuschieben.

Es gibt andere Legenden, in denen seine Funktion und seine Erschaffung eine andere sind, aber ich bleibe bei der, die ich zuerst gelesen und die mich so fasziniert hatte.

Der Golem, wie die ersten Menschen aus Lehm geformt, wird in dieser Version zu Leben erweckt durch das hebräische Wort für „Wahrheit“, das ihm auf die Stirn geschrieben wird. Wenn seine Dienste nicht mehr gebraucht werden oder er zerstört werden muss, weil er außer Kontrolle gerät wie in einer Version des Mythos, genügt es den ersten Buchstaben wegzunehmen und alles Leben weicht aus ihm. Ein Buchstabe trennt im Hebräischen die Wörter Wahrheit und Tod.

 

Sowohl im Neuen, wie auch im Alten Testament wird die Erschaffung der Welt durch Sprache gewährleistet.

Und Gott sprach: es werde Licht! Und es ward Licht.

Oder eben der Beginn des Johannesevangeliums:

Im Anfang war das Wort.

Indische Priester hingegen, las ich erst vor kurzem, weigerten sich, ihre heiligen Texte aufzuschreiben, weil sie Angst hatten, dann die Kontrolle über sie zu verlieren. Das Ergebnis war etwas anderes, aber auch sie gaben dem Wort eine übermäßige – eine schöpferische wie zerstörerische - Kraft. Sokrates hingegen wollte den Texten keine Macht geben und verweigerte deshalb das Schreiben.

Dieser magische Glaube an die Kraft der Sprache, der im Golem-Mythos auch zum Ausdruck kommt, war es, der mich damals so gefesselt hatte.

 

Ein anderer Aspekt wird mir heute erst bewusst: nämlich der Gedanke des Schutzes nicht durch Muskelkraft, sondern durch „Wahrheit“. Der Golem soll die Juden schützen, indem er die Lügen der Antisemiten aufdeckt, also verhindert, dass sie den Bewohnern des Ghettos ein totes Kind unterjubeln. In manchen Versionen der Legende gerät der Golem außer Kontrolle und zerstört alle, die sich ihm in den Weg stellen. Das war aber nicht intendiert und entsprach nicht seiner Funktion. Dieser unbedingte Glaube an die Aufklärung macht mich auch ein wenig traurig – denn wir wissen heute, dass der Antisemitismus nicht verschwindet, wenn er widerlegt wird. Wer Antisemit ist, lässt sich von Fakten nicht beeindrucken.

Dennoch: das Bild einer Figur - durch Sprache erschaffen, durch Sprache getötet – die Schutz gibt durch Aufklärung, ist ein ganz schön starkes und fasziniert mich immer noch.

 

In die Altneu-Synagoge bin ich dann doch nicht hineingegangen.

Den Weg dorthin säumt eine ganze Reihe von Souvenirständen, statt böhmischem Kristall bekommt man hier Davidstern-Anhänger und Miniatur-Golems. Der Eintritt in die Synagogen ist möglich, kostet aber Eintritt, was an sich nicht schlimm wäre – aber die gesamte Atmosphäre eines Freiluft-Geschichts-Vergnügungsparks bedrückt mich.

Also bleibe ich bloß eine Weile vor der Synagoge stehen und stelle mir vor, wie ein Lehmhaufen auf dem Boden des Dachgeschoss´ die Überreste des Golem von Prag darstellt. Bis ich schließlich von einer größeren Reisegruppe aus dem Jüdischen Viertel heraus gespült werde.

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