Der Autor

Gert Loschütz wurde als "der David Lynch unter Deutschlands Romanautoren" bezeichnet, viele seiner Texte thematisieren das Unheimliche. Er wird aus seinem hoch geschätzten Roman Dunkle Gesellschaft lesen, für den er 2005 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises gewählt wurde. Er ist auch Verfasser von zahlreichen Theaterstücken, Hörspielen und Fernsehspielen.

Gert Loschütz wurde 1946 in Genthin (Sachsen-Anhalt) geboren, 1957 übersiedelte die Familie nach Hessen. 1968 wurde er zur Tagung der Gruppe 47 auf Schloss Dobříš eingeladen, die jedoch wegen des Einmarschs der Truppen des Warschauer Paktes nicht stattfinden konnte. Gert Loschütz lebt in Berlin.

​Im November 2016 ist er Stipendiat des Prager Literaturhauses.

 

 

Bildnachweis:
Björn Steinz

Blog

| Gert Loschütz | 9.11.2016

8. November 2016

3.

Vom Schreibtisch aus (sagte ich das schon?) geht der Blick auf die vorm Fenster vorbei fließende, jetzt aber zu gekräuseltem Blei erstarrte Moldau hinüber zur Kleinseite, die trotz der dort aufragenden Burg so heißt, als sei das ein Nichts und nicht der Hradschin, Jahrhunderte lang Sitz dreier Kaiser, diverser Könige, Fürsten, Diktatoren und seit einiger Zeit auch (in dieser langen Reihe von Unterdrückern und Blutsaugern kaum ins Gewicht fallend) demokratischer Präsidenten … und gegenüber, nein, leicht nach links versetzt, Smíchov, wo Siegfried Kapper geboren wurde, der Arzt und Schriftsteller, der eigentlich Isaac Salomon hieß und jahrelang durch das südliche Osteuropa reiste, dessen Dichtungen er übersetzte, ins Deutsche, auch das, vor allem aber ins Tschechische, in dem er auch seine Gedichte verfasste, was ihm, dem Juden, von einem Teil der national gesinnten Tschechen eine Weile als Anmaßung ausgelegt wurde.

 Vorm Fenster auch, im Sitzen zu sehen, die noch immer luftig gelb belaubten Baumwipfel der Slaweninsel, unter denen vom frühen Morgen bis zum späten Abend die Spaziergänger mit ihren Hunden auftreten; sie kreisen um den Spielplatz mit den kleinen zwischen den Spielgeräten hin- und herwankenden Menschen, die von großen, die am Zaun lehnen, im Augen behalten werden.

 Am Mittag ist es sonnenhell, aber es ist eine kalte Helligkeit; die bei meinem Sommerbesuch mit K. zwischen den Wehren hin und her fahrenden Boote sind verschwunden; bei offenem Fenster das gleichmäßige Rauschen des halb vom Wasserturm und der Galerie verdeckten Wehrs; das die Straße erschütternde Rumpeln der Tram, einmal auch (und dann immer wieder) das fast wie in New York klingende an und abschwellende Heulen eines um die Kurve rasenden Polizeiautos.

         Nachts steigt einem der dann kaum noch von den Autoabgasen durchmischte Wassergeruch in die Nase, der Flussgeruch, der ein anderer ist als der See- oder Meeresgeruch: brackiger, dunkler, man denkt dabei nicht an Wind, Sonnennachmittage, Gischt, sondern an ins Wasser hängende Zweige, treibendes Laub, Dämmerlicht, Schatten ...  

 Vor jedem zweiten Haus stehenbleiben und an der Fassade hoch schauen.

 Als ich zurückkomme, außer Atem vom Treppensteigen, steht die Tür zur Nebenwohnung offen, das Korridorlicht brennt, eine junge Frau, die sich gerade zum Ausgehen fertig macht, rennt hin und her. Sie sieht mich und ist genauso überrascht wie ich, fängt sich aber rasch, kommt heraus und gibt mir die Hand. Da ich, obwohl sie gleich Englisch spricht, ihren Namen nicht verstehe, nenne ich sie später nach ihrer Wohnung, Fräulein Elf. Sie wohnt in der Elf, ich in der Zehn. Die Zahlen sind über den Türen angebracht.

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