Über die Moldau treibt in schnellen Schwaden der Nebel, der den Petřín in Gänze verschluckt. Ich erahne seine Formen, inzwischen sind sie mir vertraut. Die Kleinseite ist noch ganz schummrig, hier könnte ein Golem umgehen, vielleicht tut er das wirklich.
Dann kommt die Sonne raus und lässt Prag wieder glänzen. Wie gewohnt sitze ich schon bei Sonnenaufgang an meinem kleinen Schreibtisch am Fenster über der Moldau und bastle aus wild kombinierten Strichlein eine große Geschichte. Das klingt dann etwa so: „Ich hatte das Fenster gekippt. Gegen Mitternacht ging ein Regenguss nieder und es war viel Getier ums Haus, dessen Schleichen und Scharren sich in meinem Traum fortsetzte, von dem mir am nächsten Tag allerdings nicht mehr viel präsent war.“ Gut möglich, dass der Satz später gestrichen oder so umgearbeitet wird, dass man ihn im Buch weder finden noch wiedererkennen wird. Ich gebe keine Garantien.
Ich bin angekommen in Prag. Ich weiß, wo ich das beste Brot bekomme. Ich habe meine Joggingstrecken gefunden, die schönsten beinhalten leider die meisten und steilsten Höhenmeter Unterschied. Hoch auf den Petřín und die Stadt von oben sehen oder einmal um den Letná. Auch um den Festungswall des Vyšehrad läuft es sich wunderbar, und dann liegen auf dem dortigen Friedhof noch Dvořák und Smetana, deren Orchesterwerke gute Treiber sind bei meinem flinken Lauf zwischen den Touristengruppen hindurch. Die mögen mich für einen flüchtigen Taschendieb halten, ich bin der einzige Läufer weit und breit.
Deutsche Reisende fragen mich in schlechtem Englisch, wie die Parkuhr funktioniere oder wo die diese und jene Straße sich befinde. So sehr angekommen bin ich, dass ich kaum noch fremd wirke. Ich nicke und deute vage in eine mutmaßlich nicht ganz falsche Richtung, das gibt ihnen ein gutes Gefühl.
Im Schwimmbad verheddere ich mich im Netz, das plötzlich von der Decke fällt, weil die Turmspringer ihren hinteren Bereich des Beckens abtrennen. Der Taxifahrer berechnet mir die doppelte Fahrt, wir einigen uns auf den anderthalbfachen Satz und erringen beide einen kleinen Sieg. 50 Kronen hin oder her, um mehr ging es nicht, du Schlingel.
Die Leute sind freundlich, das Essen ist schmackhaft, das Bier so gut wie unseres. Allein die Kunst im öffentlichen Raum arbeitet gegen diese Harmonie, da krabbeln groteske Riesenbabys, allerlei Horrorgestalten, Kinderfiguren mit gerillten Gesichtern läuft Brunnenwasser aus den Füßen. Und vielleicht geht der Golem ja wirklich um, wenn der Nebel dicht genug ist. Dann besucht er diese Vertrauten, die auf den Plätzen auf ihren Sockeln Wache halten, damit die Touristen den Einheimischen noch etwas von der Stadt übriglassen. Zu welcher Gruppe gehöre ich? Und was steht auf dem Zettel in seinem Mund, der ihn zum Leben erweckt hat? Dort steht: Philip, brüh dir auf dem knisternden Gasherd in dem kleinen Kännchen einen Kaffee auf und dann zurück an Manuskript!