Der Autor

Tom-Aaron Aschke, 1995 geboren, studiert über das Erasmus+ Programm im Wintersemester 2017/18 an der Karls-Universität in Prag Geschichte und Politikwissenschaften. Normalerweise studiert er an der Freien Universität Berlin und wird dort 2018 seinen Bachelor of Arts der Geschichte abschließen. 

Zukünftig plant er sich im Rahmen eines Masterstudiums auf die Geschichte und Politik Ostmitteleuropas zu konzentrieren. Seit seinem einjährigen Freiwilligenaufenthalt in Warschau 2013/14 beherrscht er die polnische Sprache und interessiert sich für die Vergangenheit und das Zeitgeschehen Polens. Mit dem Aufenthalt in Tschechien möchte er sich mit dem Nachbarland der ihm bereits vertrauten Staaten näher beschäftigen. 

Seit Oktober 2017 schreibt er für prag aktuell, insbesondere zu Ausstellungen und Veranstaltungen mit historischem Bezug. In seiner Freizeit hat er eine Leidenschaft für Fußballkultur entwickelt und möchte seinen Aufenthalt in Tschechien auch dazu nutzen, die dortigen Stadien und Fußballvereine kennenzulernen. Auf seinem Blog macht er diese Erlebnisse zugänglich, um andere dadurch zu inspirieren, zu amüsieren oder ihnen eine Orientierung im örtlichen Fußballgeschehen zu geben.

Bildnachweis:
Tom-Aaron Aschke

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Blog

| Tom-Aaron Aschke | Rubrik: Fußball | 7.12.2017

Vom widerständigen Känguru

EIn Stadionbesuch bei Bohemians Praha 1905

Fußballaffinen Freunden und Bekannten ging immer ein Lächeln um die Lippen, wenn ich ihnen davon erzählte, bald in Prag zu leben und mir die dortige Fußballwelt ansehen zu wollen. Nach dem verschwörerischen Grinsen raunten sie mir zu, ich müsse unbedingt zu Bohemians. Da wäre es noch genau so, wie Fußballfans vom Fußball träumen. Und außerdem wären die Fans der Bohemians ein Hort des Widerstands gewesen, als große Teile der tschechischen Fanszenen gegen Zuwanderer und Flüchtlinge hetzten. Also ist der Entschluss schnell gefasst und ich möchte am Wochenende das letzte Heimspiel der Bohemians Praha 1905 in dieser Hinrunde gegen den Tabellenvierten Slovan Liberec besuchen. 

Prenzlauer Berg in Prag

Lange vor Spielbeginn treffe ich mich mit einem Freund am Vršovické náměstí, das ein kleines und beschauliches Stadtteilzentrum bildet. Junge Mütter und gut gekleidete Kinder bevölkern die Straßen. Die Bäckereien sind teurer, die Gehwege sauberer und die Stimmung gediegener als in den restlichen Prager Stadtteilen. Es ist ein Hort der Ruhe und der hippen, urbanen und jungen Bürgerlichkeit. Ich habe das Gefühl, im Prager Prenzlauer Berg gelandet zu sein. Es ist tatsächlich sehr angenehm hier und bestimmt sind die Menschen hier durchschnittlich glücklicher als anderswo. Aber es ist auf den ersten Blick eben auch kein Ort, an dem wir einen der tschechischen Kultvereine, mit marodem Stadion und bekannter wie aktiver linker Fanszene erwarten würden. Doch schon nachdem wir die erste Seitenstraße einschlagen, uns als Fremde stets an den Empfehlungen Googles orientierend, bekommen wir den Gegenbeweis serviert. Noch während wir in der Abenddämmerung das Ende der Straße auszumachen versuchen, werden der Himmel und die umliegenden Häuser in gleißend weiß-gelbes Licht geworfen. Das Ziel hat sich uns zu erkennen gegeben, das Flutlicht leuchtet den Pilgern den Weg ins schräg unterhalb liegende Stadion. Wir werden unmerklich schneller und erreichen in Null komma nichts den Eingang. Noch ist es aber eine gute Stunde bis zum Anpfiff und es besteht kein Grund zur Eile, denn vor uns und gegenüber des Eingangs zur Bohemians-Fankurve hat eine Kneipe bereits ihre Tore geöffnet.

"Für solche Abende bin ich Fußballfan"

Vor dem Eingang hat sich bereits eine beträchtliche Traube durstiger Fans gebildet, halb rauchend halb ins Gespräch vertieft. Im Gegensatz zum Viertel und dem Stadion herrscht hier innen wie draußen reger Betrieb. Ein wahres Bild von einer Fußballkneipe. Da solche lauten, großen Gruppen aber nicht automatisch einladend wirken und wir noch nüchtern und wenig mutig sind, beraten wir, das Stadion umkreisend, noch eine Weile, bevor wir uns in das bierschwangere Souterrain wagen. Nachdem wir unser Bier haben und so an der Theke lehnen und uns umschauen, bereuen wir unsere Entscheidung nicht. Die Luft ist bierschwanger, der Tresen klebt als wir unsere Arme darauf stützen und der Barkeeper kommt mit den Bestellungen hinterher. Quasi jeder Gast hat irgendeine dunkelgrüne Devotionalie an seinem Leib und auch das Personal trägt Bohemians-Shirts. Durch die engen Zwischenräume um die vollen Tische, drängen sich rustikale Männer in Richtung Tresen und bekommen ohne Weiteres und mit einem Augenzwinkern ihr Bier serviert. Man kennt sich an diesem Ort. Wir sind in einer Fankneipe gelandet. Nach einigen recht merkwürdigen Annäherungsversuchen fragt ein Mann, der mit seiner Frau an der Theke steht und mit ihr auf ihrem Handy Bilder von einem offensichtlich wärmeren Ort betrachtet, woher wir den jetzt eigentlich seien. Da mein Begleiter aus Marseille und ich aus Stuttgart komme, gibt es fußballtechnisch auf stotterndem Englisch erstmal einige Dinge einzuordnen und zu klären. Das schöne am Fußball ist ja, dass die eigene Bezugsgruppe der Fußballfans nicht zwingend national oder regional begrenzt, sondern praktisch überall anzutreffen ist. Die gleichen Rahmenbedingungen und Regeln bieten eine übernationale Kommunikationsfläche, von der aus sich interessante Gespräche ergeben können. Wir erfahren, dass unser Gesprächspartner aus Belgrad kommt und Fan des Hauptstadtklubs Roter Stern ist, was auch seinen in der dunkelgrünen Bohemians-Bar auffälligen roten Schal erklärt. Er lebt bereits seit einigen Jahren in Prag und hat Bohemians 1905 zu seinem hiesigen Lieblingsklub auserkoren. Wir fragen ihn weshalb und bekommen ein kehliges Lachen, dann ein Schmunzeln und schließlich eine Erklärung geliefert, die wir gleich voller Vorfreude selber überprüfen können. "Hier gibt es einfach mit Abstand die beste Stimmung. Für solche Abende bin ich Fußballfan."

Ein Stadion wie ein Wohnzimmer 

Durch das vor-moderne, etwas ramponiert aussehende Kassentor fliegen wir beschwingt hindurch. Das Stadiongelände befindet sich mit einem wackelig aussehenden Zaun umgrenzt mitten im Viertel. Uns wird bewusst, wie leicht es sein muss, hier Pyrotechnik und dergleichen hinein zu befördern. Da das Stadion Ďolíček im Grunde genommen nur aus einer überdachten Haupttribüne und einem für die Fans begehbar gemachten Hügel am Nordrand besteht, spielt sich dort auch das gesamte Fanleben vor und nach dem Spiel ab. Im Süden und Osten ist die Spielfeldbegrenzung nur wenige Meter von der Straße entfernt. Auf diesen schmalen Streifen dürfen sich die Gästefans in Zweier- und Dreierreihen quetschen. Im Prinzip könnten die Spieler mit der nahen Tram Doppelpass spielen. Wie viele Bälle im abendlichen Verkehr bereits auf die Straße geflogen sind, ist nicht bekannt. Wenn es jemanden gibt, der das mit Sicherheit bereits beobachtet hätte, dann ist das einer der Angestellten der gegenüberliegenden Česká pošta, die gemeinsam aus dem Fenster im fünften Stock mit Bier das Spiel verfolgen. Wo das Viertel anfängt und das Stadion aufhört, ist hier nicht ganz eindeutig. Wir nehmen auf der Haupttribüne Platz und können uns beide nicht sattsehen an der Flutlicht-Atmosphäre und den erleuchteten Straßen der Gegend. Im Fanblock beginnen die Ultras mit ihren Vorbereitungen. Kinder bringen mit ihren Vätern Banner am Zaun hinter dem Tor an, die Jugendmannschaft sitzt bereits auf dem Zaun und fiebert dem Spiel entgegen. Während der Aufwärmübungen fliegen immer wieder Bälle in die Tribüne, der ein oder andere verliert auf diese Weise sein frisches Bier beim Ansetzen. Die Stimmung ist entspannt und die Abläufe wirken eingespielt. Es ist wie ein Abend bei Freunden. Man weiß, was man bekommt und weiß es zu wertschätzen. Hohe Vorhersehbarkeit bei maximalem Komfort. Hier ist niemand auf der Suche nach Ärger, gleichzeitig haben aber auch viele Fans Lust auf Singen und Hüpfen. Die Tribüne hinter dem Tor wird heute Abend voll werden!

Eine bunte Mischung

Die erste Halbzeit erleben wir wie in Trance. Auf der Haupttribüne bleiben nur wenige Plätze frei und es herrscht ein geschäftiges Treiben. Das Spiel ist streckenweise recht ansehnlich und es gibt einige vielversprechende Szenen. Den Durchbruch schafft gleichwohl kein Team und so bleibt die Begegnung insgesamt arm an richtigen Höhepunkten und Aufregern. Je länger ich die Fans auf dem Hügel hinter dem Tor betrachte, desto mehr zieht es mich zu ihnen. Da das Stadion recht klein ist, gibt es keine wirklichen Durchgangssperren und die Besucher können frei durch die Tribünen diffundieren und sich niederlassen, wo es ihnen gefällt. Kein Grund also, weiterhin auf der Haupttribüne zu bleiben. Im Fanblock herrscht dichtes Gedränge, seitlich schieben sich junge Männer mit Nachschub an Biertanks und Würstchen für den Kiosk vorbei. Jugendliche und recht saturiert wirkende Ultras in Windbreaker-Jacken mischen sich unter einfacher gekleidete Stehplatz-Fans mit Bohemians-Schirmmützen. Zwischendrin sind einige internationale Fußballtouristen, die ihre Sticker an den Masten und Zäunen hinterlassen. Manchmal läuft ein Hippie oder eine junge Familie vorbei. Es ist eine bunte Mischung, die in Singen und Habitus wenig militärisch und sehr anarchisch wirkt und trotzdem einige schöne gemeinsame Lieder zustande bringt. Sehr oft sieht man hier Aufnäher, Mützen oder Schals des FC St. Pauli. Einige Fangruppen und Skinheads beider Vereine sind befreundet und besuchen sich gegenseitig bei Spielen. Auch zu den Fans von Celtic Glasgow bestehen Beziehungen. Auch Bohemians 1905 ist für seine linke, antifaschistische und antirassistische Fanszene bekannt und gilt als alternativer Klub. Wenn man so vermessen sein möchte, kann man Bohemians 1905 auch als St. Pauli Tschechiens bezeichnen. Nie wirkt die Atmosphäre hier einschüchternd, aggressiv oder gezwungen. So wie es bei vielen anderen Vereinen in den Fankurven oft der Fall ist. Daran kann auch ein junger Mann in Bomberjacke nichts ändern, der nicht genau weiß, ob er maskiert auf dem Zaun sitzen und Angst verbreiten oder um sich nach Zuschauern umsehen soll. Vielleicht ist es diese Mischung aus Normalen und Ausgestoßenen, dem in das Viertel und die Stadt eingelassenen Stadion, der Improvisiertheit der Szenerie und dem Großteil der entspannt lautstarken Fans, die den Verein dazu brachten über der Tribüne den Spruch "Ďolíček, víc než stadion" anzubringen (zu deutsch: Ďolíček, mehr als ein Stadion).

Bohemians ist Punk

Das Spiel verläuft weiterhin ereignislos und auch ein finales Aufbäumen der Bohemians kann keine erhoffte Wende mehr herbeiführen. Bei klirrender Kälte bin ich froh, als das Spiel abgepfiffen wird und 0:0 endet. Trotzdem verlasse ich nur schweren Herzens das Stadion. Wüsste ich nicht, dass es überwiegend unbenutzt dasteht, würde ich jetzt denken, dass das Feiern der Mannschaft und das gemütliche Zusammensein kein Ende mehr nimmt. Wir haben aber noch eine Verabredung mit dem Belgrader Fußballfan in der Fankneipe und wärmen uns bei Bier und Schnaps langsam wieder auf. Hier scheint es kaum jemanden zu stören, dass der Verein sich sang- und klanglos aus dem Jahr verabschiedet und wieder im ereignislosen Mittelfeld der Liga eingruppiert hat. Hier plant niemand die Champions League ein und solange man sich in der Fankneipe trifft und jedes zweite Wochenende die 11 Spieler von dem Hügel hinter dem Tor her anfeuern kann, solange geht es hier auch niemandem schlecht. Dieser Verein, sein Stadion und seine Fans strahlen die Lässigkeit und Abgeklärtheit aus, die in den modernen Fußballarenen und in den angestrengt effektheischerischen Fanszenen so oft fehlt. Dieser Verein ist Punk. Und er lässt mich bereits darüber nachdenken, wann ich sein Stadion und seine wunderbaren Fans wieder besuchen kann.

Historisches & Praktisches

Der Klub mit dem Känguru im Logo, trug seinen Namen nicht von Anfang an. 1905 wurde er als AFK Vršovice, nach dem gleichnamigen Stadtteil im Prager Südosten, gegründet. Identitätsstiftend bis heute ist für den Klub seine Australienfahrt im Jahr 1927 gewesen. Ursprünglich sollte die tschechoslowakische Nationalmannschaft auf Einladung des australischen Verbands eine Tournee gegen australische Verein spielen. Die Überfahrt über Neapel und Ceylon wurde jedoch als zu risikoreich eingeschätzt und übrig blieb von dem Plan der Entschluss der Mannschaft aus Vršovice, die Fahrt anzutreten. In Brisbane bekam der Verein ein Kängurupaar als Geschenk überreicht, das er zurück in Prag dem Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk überreichen sollte. Da die Mannschaft in Australien als die "Bohemians" galt, übernahm der Verein diese Bezeichnung in seinen Namen, genauso wie ein Känguru in das eigene Wappen integriert wurde. Überwiegend konnte sich der Verein in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der höchsten Spielklasse halten. 1983 reichte es sogar zum Titelgewinn. 2005 musste der Verein Insolvenz anmelden. Eine Faninitiative brachte es mit internationaler Unterstützung jedoch zustande, den Verein vor den Schulden zu retten und einen neuen Investor finden. Heute spielt Bohemians Praha 1905 wieder in der Ersten Tschechischen Liga, derzeit "HET Liga".

Die Heimspiele tragen die Bohemians im Stadion Ďolíček im Stadtteil Vršovice aus. Das Stadion ist über die zutreffend bezeichnete Tramhaltestelle "Bohemians" (Linien 2,5,6,7,11,13) zu erreichen. Ein Ticket ist ab rund 4,50 Euro zu bekommen.

Bildnachweis:
Tom-Aaron Aschke
Externer Link: www.bohemians.czwww.bohemians.cz
Bohemians Praha 1905
Vršovická 31
101 00
Praha 10
Hauptstadt Prag (Hlavní město Praha)
Tschechische Republik
info@bohemians1905.cz
+420 245 005 014

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