Prag erstrahlt wieder einmal vom Wenzelsplatz bis zum Altstädter Ring in festlicher Weihnachtsdekoration. Überall drängen sich Menschen vor den süßriechenden Holzbuden bei Glühwein, Medovina und christlicher Adventsmusik. Das höchste Fest der Christen steht kurz bevor und soll alljährlich an die Geburt des Heilands und an die christliche Nächstenliebe erinnern, während gleichzeitig Tausende Frauen, Männer und Kinder in Europa auf der Flucht sind; doch sollte dies das Problem eines jeden wahren Christen und wenn nicht Christ, sodann Demokraten und wenn nicht Demokrat, dann doch noch Sozialisten sein? Frage ich nicht ohne Grund mit einem gewissen Zynismus.
1996 - 2015: Gesellschaft hat sich im Kern kaum verändert
Wie kaum ein anderer hatte ich die Gelegenheit Prag und Tschechien in zwei unterschiedlichen Zeitabschnitten kennenzulernen und zu beurteilen. 1996 und 97 kam ich als junger Student nach Prag, um seinerzeit zwei Praktika zu absolvieren. 1996 war auch das Jahr, als ich das erste Mal einer Gruppe tschechischer Skinheads am Bahnhof Cheb begegnete, die mich glücklicherweise nicht bemerkte, weil ich mich besonnen mit einem Kaffee in eine Ecke verkroch, während ich allerdings einige Jahre später (es muss so um 1998/99 herum gewesen sein) in der Prager Metro-Station "Muzeum" von einem tschechischen Skinhead übelst beschimpft und geschlagen wurde, weil ich es doch wagte auf Deutsch Freunden zuzurufen, dass sich der Ausgang in Fahrtrichtung befände. 1996 hörte ich auch von tschechischen Studenten das erste Mal ungeniert Aussagen über Sinti und Roma, die in ihrer Peinlichkeit sich kein deutscher Akademiker erlaubt hätte, von sich zu geben. Die restriktiven Beschränkungen, die unterschiedlichen Preisregelungen (Mieten von über 2000 DM für Ausländer oder Speisekarten mit "Westpreisen" und "tschechischen Preisen" waren damals durchaus keine Seltenheit in Prag) und die enorme Rechtsunsicherheit für Ausländer (gültige Mietverträge sind bis heute ein Problem für Ausländer in Prag) machten mir recht schnell klar, dass ich nach meinem Praktikum nicht in Prag werde bleiben können.
Linktipp zum Thema: "Tschechische Neonazis nehmen sich deutsche Skinheads zum Vorbild" (Radio Praha)
All diese Problematiken waren trotz des massenhaften Touristenansturms und damit auch Informationstransfers seinerzeit noch recht unbekannt in den westlichen Medien. Das ist mittlerweile anders. Tschechien ist mittlerweile nicht nur NATO-Mitglied, sondern auch Mitglied der Europäischen Union und nebenbei bemerkt auch nach der Teilung der ČSSR in die slowakische und tschechische Republik 1992 auch selbstständiges Mitglied in der UNO und man möchte auch meinen, damit den Kinderschuhen seiner trotz-bockigen Kindheitsphase der Nachwendezeit entwachsen zu sein, die stets getreu dem Motto: "Früher war ja alles besser" in Erinnerungen einer kommunistischen Nostalgie mit "menschlichem Anlitz" schwelgte. Es ist bemerkenswert, wie die heute zwanzigjährigen Tschechen 1:1 die Aussagen wiedergeben, die ich bereits 1996 von ihrer Elterngeneration vernahm und nicht nur das. In meinen Deutschkursen und bei privaten Kontakten außerhalb der Kurse bekam ich noch vieles mehr zu hören, das man auf die Stichwörter: "Sinti und Roma, (alle) Ausländer, Obdachlose, Juden, Flüchtlinge. - Aber wir die tschechische Nation..." zusammenfassen könnte. Ein bunter Mix nationalistischer Sprüche, der mich das Gruseln lehrte. Sicherlich könnte man jetzt an dieser Stelle "Aber Deutschland 1939...!" einwerfen. Aber alle LeserInnen können versichert sein, dass ich genau so unbeschönigend gegen einen deutschen Nationalismus urteilen würde, wie überhaupt gegen jeden Chauvinismus jeder Art und jedes Landes. Die Fehler anderer legitimieren nicht das eigene Fehlverhalten.
Linktipp zum Thema:
Kölner Domradio: "Kirchen in Tschechien und der Slowakei tun sich schwer mit Flüchtlingen - Möglichst nur Christen"
Erschreckende Äußerungen unter der Oberfläche des Alltags
Ein weiterer Ausfall, ich deutete es schon in meiner Stichwortliste an, waren peinliche Äußerungen in meinen Deutschkursen 2012, als das Thema sozialer Abstieg und Obdachlosigkeit durch Schicksalsschläge Gegenstand im Deutschbuch war. Die Klientel im Kurs bestand allesamt aus akademisch gebildeten Deutschschülern höherer Einkommensschichten. Forderungen nach Lagern wurden laut, in denen man den Obdachlosen das Arbeiten wieder beibringen könne; und so drängte sich mir stirnrunzelnd und kopfschüttelnd das Komposita aus "Lager" und "Arbeit" innerlich auf, dass da lautet "Arbeitslager". Andere Deutschlehrer erklärten mir später, dass sie dieses Kapitel mittlerweile ganz aus dem Unterrichtsplan gestrichen haben, weil es zu keiner vernünftigen Diskussion führe. Auch private Diskussionen mit Tschechen führten zu keinem konstruktivem Ergebnis. Mittlerweile überspringe auch ich das Kapitel "sozialer Abstieg, Schicksalsschläge und Obdachlosigkeit" in meinen Deutschkursen. Erschreckend sind auch heute noch Aussagen über Sinti und Roma im privaten Prager Bekanntenkreis. So wurde ich erst kürzlich allen Ernstes gefragt, warum man Zigeuner nicht in eine entfernte Region nach Sibirien "umsiedeln" könne. Auch hier drängen sich verschiedene Begriffe aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts vor meinem geistigen Auge auf, während ich mich frage, ob ich wirklich der einzige bin, der diese Assoziationen hat.
Um es noch mal in aller Deutlichkeit zu sagen. Es handelt sich hier nicht um einzelne Aussagen von beschränkt veranlagten Menschen, sondern um Beobachtungen über einen Zeitraum der letzten 19 Jahre und das vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingspolitik und einer erneuten Abschottungspolitik Tschechiens sowie weiterer ehemaliger Mitgliedsstaaten des alten "Warschauer Paktes". Dass dies nicht nur mir übel aufstößt, sondern auch zahlreichen anderen Tschechen, zeigt die hohe Auswanderungsquote tschechischer und slowakischer Ärzte, die ich ebenfalls fast täglich in meinen Deutschkursen antreffe. Sicherlich geht es ihnen auch um ein höheres Einkommen, wenn sie auswandern, doch ich habe auch ebensogut viele Tschechen und Slowaken, darunter auch mit sexuell unterschiedlichen Orientierungen getroffen, die vor einem nicht etragbarem Stammtischprovinzialismus vom Lande in die Stadt und anschließend nach Westeuropa geradezu geflohen sind.
Tagesschau berichtet über Kriegskinder in Syrien: Ein Bild, das berührt. (18.08.2016)
Wenn Politik zur Familienpolitik wird
Obwohl die Tschechen sich größtenteils als atheistisch (und im übrigen demokratisch) bezeichnen, stellen nach wie vor sexuelle unterschiedliche Orientierungen, unterschiedliche Religionszugehörigkeiten sowie nationale Herkunft und Zugehörigkeit zu sozialen Schichten ein Problem für viele Inländer dar. Der schockierenste Spruch von einer Tschechin (in Bezug auf die Partnerwahl), den ich je gehört habe, lautete: "Mit einem Ausländer würde ich sowieso nie etwas anfangen." Ein paar Wochen später wiederholten zwei weiterere Landsleute von ihr Wort für Wort den gleichen Satz und zwar unanbhängig von einander.
An dieser Stelle möchte ich etwas Persönliches anmerken. Mein Vater war Grieche und natürlich auch griechisch-orthodox getauft, meine Mutter ist deutsche Evangelin, meine Schwester stand eine Zeit lang den Babtisten nahe, ich selber wurde der väterlichen Tradition entsprechend griechisch-orthodox getauft, bin aber im protestantischen Nordwesten Deutschlands aufgewachsen und würde mich eher irgendwo zwischen Luthers Philosophie von "der Freiheit des Christenmenschen" und Stephen Hawkings aufgeklärter "Urknalltheorie ohne Schöpfer" einordnen. Wenn es also nach den oben genannten xenophoben Geisteskindern Böhmens, Mährens und Prags ginge, dann hätte in unserem Wohnzimmer ein national-geprägter Religionskrieg toben müssen und glauben Sie mir, Konflikte gab es auch in unserer Familie, wie wohl in jeder Familie, aber unsere Eltern haben sich nie gegenseitig unterhalb der Gürtellinie mit national-rassistischen Sprüchen beworfen. Das, was ich von ihnen gelernt habe, ist jedem Menschen, egal welcher Nation, Hautfarbe oder Religion mit Achtung zu begegnen, erst wenn sich dieser Mensch daneben benimmt, sollte man urteilen und auch dann bitteschön mit Augenmaß und nicht mit nationalen, religiösen oder rassistischen Ressentiments.
Linktipp zum Thema: Dresdner Pegida-Chef Lutz Bachmann spricht in Prag (euronews)
Noch unverarbeitete Leichen im eigenen Keller
Doch genau an dieser Stelle bemerke ich in der tschechischen Bevölkerung eine derartige fremdenfeindliche, intolerante, Haltung gegenüber Ausländern und insbesondere Flüchtlingen, die sich einerseits aus den unverarbeiteten sozialen Fragen der letzten 25 Jahren (Obdachlosigkeit, Sinti und Roma und die fehlende Aufarbeitung der eigenen kommunistischen Vergangenheit), den nostalgischen Schwärmereien im einstig vermeindlich besserem Sozialismus und dem nationalen Rattenfängertum eines Miloš Zeman, Viktor Orbán und nicht zuletzt Lutz Bachmanns nährt (Bachmann fütterte erst kürzlich am Náměstí Míru die Masse mit seinen xenophoben Polemiken). All denjenigen, die diesem Rattenfängertum folgen sei gesagt, dass auch einst in Deutschland, aber auch Italien und Griechenland die Straße in den Faschismus über die des Nationalismus führte und so lehrt mich der Anblick tschechischer Skinheads, die den "deutschen Gruß" - Welch Absurdität eigentlich?! - vollführen, gleich in doppelter Weise das kalte Grausen.
Link zum Thema: „Nur Christen zu helfen ist unchristlich“ (PZ, 13.11.2015)
Geheuchelte Weihnachten
Die Flüchtlingsdebatte in Tschechien hat gezeigt, dass große Teile der Bevölkerung noch immer gedanklich in nationalen Strukturen des 19. Jahrhunderts gefangen sind, wobei die heutige Mitgliedschaft in der EU, NATO und UNO, sowohl den tschechischen WählerInnen, als auch den VolksvertreterInnen klar machen müsste, dass sie nicht mehr in einem nationalen, sondern einem internationalen Umfeld agieren, das sich da Europäische Union und Weltgemeinschaft nennt. Wenn ich also sowohl in meinen Kursen, als auch privat in Tschechien zu hören bekomme, dass man sich schon einen Sozialismus wieder zurückwünscht, aber bitte schön doch nur für die eigene Nation, so verschlägt es mir gänzlich die Sprache und ich mag mir nicht mehr das sich anzubietende Komposita dazu denken. Auch 1933 gab es geistige Tieflieger in Deutschland, die allen Ernstes an den „Sozialismus im Nationalimus“ glaubten. Ein Sozialismus, wenn man ihn sich nun doch schon wieder zurückwünscht, sollte doch sozial sein und sozial bedeutet, dass man in Not geratenen Menschen jeder Religion, Hautfarbe oder Nation hilft und sie nicht an den Landesgrenzen erfrieren lässt.
Das größte Problem für mich bestand in meinen Diskussionen darin, dass es sich bei den Gesprächspartnern um katholisch gesonnene Christen handelte, die mir versicherten, dass sie allsonntaglich in die Kirche pilgerten, um anschließend den "heiligen Sonntag" der Familie zu widmen.
Die EU gibt es nicht à la Carte
All denjenigen, die mir ständig in den Ohren liegen, dass die EU-Mitgliedschaft für Tschechien doch so eine absolute Katastrophe (Zitat einer Kursteilnehmerin: "Mit Europa sterben!") und verantwortlich für die hohe Arbeitslosigkeit wäre, sei hier ein Zitat der Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing genannt: "Die Tschechische Republik gehört in Mittelosteuropa zu den fünf größten Empfängerländern von Mitteln aus EU-Struktur- und Investitionsfonds." (Vgl. die Webseite der Germany Trade and Invest - Gesellschaft für Außenwirtschaft und Standortmarketing mbH, Berlin 2015) Ich selber habe nicht nur zahlreiche Förderprojekte der EU im Bauwesen in Tschechien gesehen, sondern auch eines davon im Sprachbereich begleitet. Europa und die EU bieten zahlreichen Tschechen völlig neue Chancen und Möglichkeiten. Es ist daher auch nur recht und billig von Tschechien zu verlangen, Pflichten zu übernehmen; denn die EU gibt es bekanntlich nicht à la Carte nach dem Aschenputtel-Motto die Annehmlichkeiten ins Töpfchen und die Unannehmlichkeiten in Kröpfchen. Noch immer beobachte ich, dass es EU-Bürgern schwierig, wenn nicht unmöglich, gemacht wird, Zugang zur tschechischen gesetzlichen Krankenkasse zu erlangen, Zugang zu den gleichen Rechten, wie ein Inländer. Die Freizügigkeit in der EU bedeutet ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Aber noch viel wichtiger als diese EU rechtlichen Fragen ist die gegenseitige Unterstützung in der Flüchtlingsfrage. Ich bin von jeher als Arbeiterkind ein SPD-Wähler und damit CDU kritisch gewesen. Aber Angela Merkel hat das einzig Richtige im letzten Sommer getan, als sie Deutschland ohne „wenn und aber“ die Flüchtlinge aufnehmen ließ. Dafür hat sie meiner Ansicht nach Hochachtung, wie kein anderer Bundeskanzler, ganz gleich welcher Couleur, vor ihr, verdient. Nun sind andere EU-Staaten dran und wenn Tschechien ein vollwertiges EU- NATO- und UNO-Mitglied sein will, dann muss es auch die Menschenrechte achten, dann dürfen Flüchtlinge nicht widerrechtlich inhaftiert und gegen ihren Willen in tschechischen Lagern festgehalten werden (auch Kinder) und der größte Skandal für mich ist, dass das alles dem tschechischen Umfeld um mich herum hier in Prag völlig egal ist. (Vgl. Die Presse, 22.10.2015 und Frankfurter Rundschau, 25.08.2015) Ja, sogar im Gegenteil, man verteidigt die Verhaftung von Flüchtlingen, die auf der Durchreise in ein anderes Land sind. Hauptsache man trinkt seinen Glühwein, freut sich über Trdelnik und Palatschinken, während ganze Familien in einem Krieg sterben, der in seiner historischen Kausalität von Europa ausging. Nun, aber da mögen mir einige Bachmann-, Zeman- und Orbán-Sympathisanten wieder zurufen. "Es waren ja keine Familien aus dem eigenen Land." - Mich ekelt!
"Der Krieg ist ein besseres Geschäft als der Friede"
Carl von Ossietzky (1889 - 1939) am 8. Dezember 1931 in der Weltbühne
Vielleicht mag nach dem Erscheinen dieses Artikels ein Shit-Storm über mich herwehen. Vielleicht werde ich aus Tschechien als unbequemer Querulant "abgeschoben". Aber das ist mir egal. Ich habe mir 19 Jahre lang einen Prozess angesehen, von dem ich behaupten kann, mir eine Meinung mit Augenmaß bilden zu können. Ich schreibe hier nicht als Deutscher, nicht als Grieche und nicht als Ausländer. Ich schreibe als Europäer (und Weltbürger im Sinne Hannah Arendts) und denke, dass ich als EU-Bürger das gleiche Recht wie ein Inländer habe, mich zu diesem Thema moderat äußern zu dürfen
Ich kann verstehen, dass man an Weihnachten als Familienfest, die Politik für ein paar Stunden vor der Haustür lassen möchte. Nichtsdestostrotz bleibt es mir aber unverständlich, wie man sich als Christ, als Sozialist oder Demokrat bezeichnen kann, aber ohne schlechtes Gewissen auch an den restlichen 362 Tagen des Jahres nichts vom Leid Millionen von flüchtender Frauen, Kinder und Männer wissen möchte, die im Übrigen vor genau den Waffen fliehen, denen europäische Waffenexporteure jährlich fette Gewinne bescheren und zum Wachstum der europäischen Volkswirtschaften und damit dem eigenen Wohlstand beitragen.
Besinnliche Weihnachten bei Karpfen oder Ente, ganz wie es beliebt!
Konstantin John Kowalewski, 16.12.2015
Artikellink: http://www.prag-aktuell.cz/blog/geheuchelte-weihnachten-der-gleichguelti...